Kapitel 6 "Die Zerreißprobe"



Der Schock saß tief.


Er hatte sich mir doch die letzten Tage zuvor zufrieden gezeigt.

Es schien, als hätte sich für ihn vieles zum Guten gewendet.

Keine Spur von Traurigkeit – fast euphorisch.


Ich versuchte durch seinen Freund herauszufinden, was passiert war – ich kannte ja niemanden den ich sonst hätte fragen können.


Was hat ihn nur dazu bewegt, einfach fortzugehen?


Ich rief ihn an und er schilderte mir, was er wusste.


Ein kalter Schauer durchlief mich.


Er hatte mitbekommen wie der Arzt sagte: „ Der liegt schon 5 Tage…“


Doch wie konnte das sein?


Er hatte doch noch geschrieben. So klar und gefasst.

Und der „Onlinestatus“?

Ich verstand die Welt nicht mehr.


Vielleicht war es ein technischer Irrtum.

Vielleicht hat sich das System einfach selbst aktualisiert.


Aber vielleicht war es etwas anderes.


Vielleicht war es seine Seele.

Nicht um sich zu zeigen – sondern um mich fernzuhalten.


Wie eine stille Botschaft.

„Geh nicht rein.“

„Nicht du.“

„Ich will nicht dass du mich so siehst.“


Vielleicht bedeuteten seine letzten Worte genau das:


Mach dir keine Sorgen.

Es geht mir gut.

Ich bin in Sicherheit.


DU sollst mich nicht finden.“


Er wusste dass ich sofort nach ihm sehen würde, wenn ich merkte, dass er nicht mehr online war.


Vielleicht deshalb das Blut auf der Treppe.

Vielleicht wollte er gefunden werden – aber nicht von mir.


Er wusste ich hätte den Anblick nicht verkraftet.


Denn ich hatte es damals noch nicht verstanden...



Etwas in mir konnte sich nicht abfinden mit dem, was war.

Er hat sein Leben nicht aus Verzweiflung beendet. Das hätte er niemals getan.


Und dann erinnerte ich mich...

Ich erinnerte mich an sein wahres Wesen.

An das wofür er kämpfte.

Was er sagte.

Was er fühlte…

Und zuletzt an das, was er mir in seinen letzten Stunden schrieb.


Unsere Verbindung war so stark. Er wusste, dass nur ich es verstehen könnte.


Die Nachrichten die ich von ihm bekam – seine letzten Worte - waren nicht nur so dahin geschrieben.


Sie unterschieden sich von den Nachrichten der Wochen zuvor.

Nicht nur in der Wortwahl oder im Inhalt, sondern auch im Verständnis.


Es war eine Verabschiedung.


Es traf mich sehr, als ich glaubte es zu verstehen – doch in Wirklichkeit war ich noch weit entfernt davon es wirklich zu begreifen.


Die Art, wie er an diesem letzten Abend schrieb, offenbarte mir eine völlige Neuausrichtung meines Denkens, meines Glaubens, meines Seins.


Er benutze Worte, die ich so nie zuvor von ihm gehört hatte.

Mit einem Wissen, das man weder lesen noch erlernen konnte.

Es war, als spräche er von woanders.

Als wäre er nicht mehr er selbst.

Klar und eindringend - in mein Bewusstsein.


Doch er war tot!


Die täglichen Nachrichten,

vom Guten Morgen bis Gute Nacht.

Das erzählen des Tages, das beantworten unserer gegenseitigen Fragen -

„Was machst du? Was hast du vor? Was beschäftigt dich?“


Es war, als sei nicht nur er nicht mehr da - sondern auch ich.

Er war nicht mehr greifbar.


Und trotzdem…

Ich sollte doch funktionieren.

Ich musste es sogar.

Und ich tat es.


Aber immer wenn ich alleine war, wenn ich an ihn dachte, wenn ich eigentlich vor Schmerz weinen wollte,

kam in mir etwas auf, das ich nicht erklären konnte.


Aus der tiefen Trauer wurde ein Gefühl der Liebe.

Nicht die Liebe zwischen Mann und Frau.

Sondern die Liebe zu ihm, zu mir, zu allem, was uns umgibt.

Ein Gefühl der Glückseligkeit.


Ich konnte das überhaupt nicht verstehen - denn für mich war in diesem Moment eine Welt zusammen gebrochen. Warum konnte ich nur so denken, ich sollte doch weinen?


In den folgenden Tagen versuchte ich immer und immer wieder zu begreifen was der Grund war.

Aber ich konnte ihn nicht finden.


Der Wunsch nach Freiheit hat sich durch sein Leben gezogen wie ein roter Faden. Ja!

Aber deswegen alles zurücklassen? ALLE zurücklassen?


Ich konnte mich nur damit abfinden dass es sein eigener Wille war.

Und das zu respektieren - war mir ein inneres Bedürfnis.

 

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